Der Körper ist kein Lehrbuch: Warum Anatomie nie neutral war
Anatomie wurde über Jahrhunderte aus einem männlich geprägten Blick geschrieben – Körper, die nicht in dieses Raster passten, wurden ausgelöscht, übersehen oder falsch beschrieben. Dieser Text lädt dazu ein, Körperwissen neu zu denken - Und: es selbst zurückzuerobern.
Lea Neumeyer
11/4/20253 min read
Hinweis: Die Begriffe „weiblich“ und „männlich“ werden hier in Anführungszeichen gesetzt, weil sie nicht naturgegeben, sondern historisch, sozial und kulturell hergestellt sind. Medizinische Diskurse haben diese Kategorien genutzt, um Körper zu ordnen – oft auf Kosten jener, die außerhalb binärer Vorstellungen leben.
Anatomie ist nie neutral
Die Geschichte der Anatomie ist keine neutrale Erzählung von wissenschaftlichen Entdeckungen, sondern eine Geschichte von Perspektiven – und Auslassungen. Körper wurden nie außerhalb gesellschaftlicher, politischer und ökonomischer Machtverhältnisse beschrieben.
Doch wir haben gelernt zu denken, dass Medizin neutral ist – es gibt keine Neutralität. Denn das, was wir als medizinisches Wissen verstehen, ist immer auch ein Produkt seiner Zeit – und lange Zeit war diese Zeit männlich, weiß, kolonial, ohne Behinderung und heteronormativ geprägt.
Über Jahrhunderte wurde der menschliche „weibliche“ Körper aus einem begrenzten Blickwinkel betrachtet: durch die Augen jener, die die Definitionsmacht hatten. Diese Perspektive formte nicht nur, wie Körper gesehen wurden, sondern auch, welche Körper überhaupt als wissenswert galten.
Strukturen, Empfindungen und Funktionen, die nicht in ein bestimmtes Ideal von „Weiblichkeit“ passten, verschwanden aus Lehrbüchern und Diskursen. Denn es musste ja „biologisch“ erklärt werden, warum Menschen mit Vulva unterlegen sind und deswegen nicht die gleiche Macht, Stimme, etc. innehaben dürfen.
Das, was heute als „weibliche Anatomie“ bezeichnet wird, wurde vor allem in Bezug auf Fortpflanzung und heterosexuelle Penetration beschrieben – als ob der Körper primär dafür existiere, etwas anderes aufzunehmen oder hervorzubringen. FUCK NO! Du und ich wissen, dass das nicht die ganze Wahrheit ist.
Unsichtbarmachung als System
Jahrhundertelang wurden Darstellungen der Vulva, Vagina und Klitoris in medizinischen Abbildungen reduziert, verzerrt oder ausgelassen. Diese systematische Unsichtbarmachung ist kein Zufall, sondern Ausdruck einer Wissenschaft, die sich selbst als objektiv* verstand, während sie bestimmte Körper zum Schweigen brachte.
*Bald wird ein Artikel zu „Objektivität“ folgen, denn das ist wirklich ein Thema für sich.
In jüngerer Zeit wurde diese Auslöschung zu Recht als einer der größten Diebstähle der Wissensgeschichte bezeichnet – ein Diebstahl an Körperwissen, an Selbstverständnis, an Lust.
Hinweis: Nicht, um andere historische oder gegenwärtige Formen von Raub und Gewalt zu relativieren, sondern um sichtbar zu machen, wie tief patriarchale Strukturen in unser Verständnis von Körper eingeschrieben sind.
Oder, um eine US-amerikanische Ärztin und Therapeutin zu zitieren, die auf vaginale Schmerzen spezialisiert ist: „Was die medizinische Versorgung und das Wissen um den Bereich der Vagina betrifft, befinden wir uns absolut im Mittelalter.“ (zitiert nach Naomi Wolf, Vagina).
Diese Aussage klingt hart – und sie ist es auch. Verdammt hart.
Denn sie beschreibt nicht nur eine historische Rückständigkeit, sondern eine alltägliche Realität.
Wenn Ärzt*innen bis heute kaum Wissen über die komplexe Struktur der Klitoris haben, wenn Vulven in medizinischen Lehrbüchern kaum abgebildet werden, wenn Schmerzen, Lustlosigkeit oder Erregung oft psychologisiert statt ernst genommen werden – dann hat das Folgen. Auch wie sie beschrieben werden – welche Worte werden verwendet? Was kreiert das für Bilder? Die Vagina ist kein Tunnel! Kein leeres Gefäß!
Für die Gesundheit bedeutet das: Viele Menschen mit Vulva und Vagina erleben Fehldiagnosen, unnötige Eingriffe (Stichwort: Bartholin Drüsen Entfernung, mehr dazu im Pussy Power Kurs) oder schlichte Ratlosigkeit im medizinischen System. Gynäkologische Beschwerden werden bagatellisiert oder pathologisiert, während grundlegende Forschung zu Vulva, Klitoris, Drüsen, „weibliche“ Prostata oder hormonellen Zusammenhängen unterfinanziert bleibt.
Für das Selbstbild bedeutet es: Wer mit einem Körper lebt, über den kaum gesprochen, gelehrt oder geforscht wird, lernt früh, sich selbst als unverständlich oder „kompliziert“ zu empfinden. Das Schweigen der Medizin schreibt sich ins eigene Körperbewusstsein ein – als Scham, Unsicherheit oder Entfremdung.
Und für die sexuelle Selbstbestimmung bedeutet es: Wenn Wissen fehlt, fehlt Sprache. Wenn Sprache fehlt, fehlt Zugang. Wie sprichst du über deine Vula? Über Vulven? Viele Menschen wissen bis heute nicht, wie umfangreich die innere Struktur der Klitoris ist, wie fein die Nervenvernetzungen funktionieren, oder dass Erregung und Lust physiologisch hoch komplexe, ganzkörperliche Vorgänge sind.
„Mittelalter“ meint also nicht nur: Wir wissen zu wenig.
Es meint: Wir haben verlernt, hinzuschauen, zuzuhören und zu glauben, dass dieses Wissen wichtig ist. Und das ist vielleicht der größte Verlust – einer, den wir uns nur selbst zurückholen können.
Körperwissen zurückerobern
Heute wissen wir: Kein Körper ist „Abweichung“ von einem anderen. Die Vielfalt menschlicher Anatomien ist keine Ausnahme, sondern die Regel. Doch das Nachwirken der alten Narrative ist tief. Selbst in aktuellen Lehrbüchern klingt manchmal noch das Echo jener Zeit mit, in der die Klitoris nur als „kleiner Penis“ oder die Vaginalmuskulatur als „schwach entwickelt“ galt oder die „weibliche“ Urethra sei „nur“ 3-5 cm lang.
Es ist an der Zeit, diese Geschichte nicht nur zu korrigieren, sondern zu entlernen – und Körperwissen neu zu erzählen: vielfältig, kontextsensibel und frei von den engen Normen, die so lange bestimmt haben, wessen Körper als vollständig galt.
Einladung: Erforsche deine eigene Anatomie
Im Pussy Power Kurs lernst du, deine Anatomie jenseits dieser alten Narrative kennenzulernen.
Du wirst eingeladen, deinen Körper mit Neugier, Achtsamkeit und Freude zu erforschen – ohne Vergleich, ohne Scham, ohne Hierarchien.
Du darfst spüren, verstehen und benennen, was dir gehört: dein Wissen, deine Wahrnehmung, deine Lust.
Inspiration für diesen Post:
Stephanie Haerdle: „Spritzen - Geschichte der weiblichen Ejakulation" (Originalveröffentlichung)
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